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Von Cuxhaven nach Otterndorf

Freitag, 11. Dezember 2020

Seeve: Von Wehlen nach Over

Lüneburger Elbnebenfluss #3: Die Seeve

Der dritte Fluss im Bunde ist ein kurzes, kurioses Gewässer der Gegensätze.


Der Seeveradweg ist eigentlich ein Rundweg, und noch eigentlicher sind das drei zusammenhängende Rundwege. Deswegen steht auf den Schildern unter dem blauen S immer Ring 1, Ring 2 oder Ring 3. Ich bin immer nur die Hälfte der Ringe gefahren, und außerdem (wie schon bei der Luhe und Ilmenau) in die andere Richtung als vorgesehen. Bei den Lüneburger Elbnebenflüssen war ich irgendwie in rebellischer Stimmung...

Der Quellgrund der Seeve ist ein stiller Teich im Wald. Wo genau das Wasser heraussprudelt, ist nicht ersichtlich. Nicht die krasseste Quelle, sondern vermutlich die ruhigste.

Dorthin führt ein holpriger Pfad, neben dem der ausgetrocknete Rehmbach fließ, ein weiterer Quellfluss.

Die Seeve möchte erst einmal beweisen, dass sie ein echter Heidefluss ist. Deshalb gelangte ich zuerst auf einem echten Lüneburger-Heide-Sandweg durch einen echtes Lüneburger-Heide-Bauerndorf und eine echte Lüneburger Heidefläche. Das Dorf heißt Wehlen, die Heidefläche Wehlener Heide.
Die Karte weist mich extra darauf hin, dass ich mich nicht wundern soll, falls nackte Menschen herumlaufen, denn hier in der Nähe beginnt ein Nacktwanderweg. (So etwas gibt es in Deutschland nur hier und im Harz.) Es hat mich nicht wirklich gewundert, dass den bei ungefähr 4 Grad Lufttemperatur niemand genutzt hat.

Mit ganzjährig 6 bis 8 Grad ist die Seeve nicht viel wärmer. Damit ist sie Norddeutschlands kältester Fluss - nur die eisigen Gletscherflüsse im Süden können die Seeve übertrumpfen.
Der Heideweg führt zur Straße, wo ich den Fluss zum ersten Mal in seiner voller Pracht gesehen habe. Viel größer wird der auch nicht mehr.

Die Straße gehört gleichzeitig zum Wümmeradweg. Ein Stück weiter links kreuzt sie ein einsames Regionalbahngleis. Daneben erstreckt sich ein netter kleiner Park, rundherum ein paar Häuser. Diese stille Kreuzung nennt trägt den Namen Handeloh und bietet den nächsten Bahnhof an der Quelle.

An einer anderen Straße gehts weiter nach Norden. Dieser Fluss kommt wirklich fast aus dem Herzen der Lüneburger Heide - jedes Dorf hat hier seine eigene Heidefläche. Auf meinem Weg sehe ich noch die Heide von Inzmühlen.

Die Seeve ist nicht nur besonders kalt, sondern auch besonders schnell. Das muss man natürlich ausnutzen, und deswegen stehen hier lauter Wassermühlen. An der nächsten Querstraße entdecke ich die Mühle Holm. Wie die Historiker sagen: Sie wurde erstmals 1615 erwähnt. Mit anderen Worten: Keine Ahnung, wann die gebaut wurde, aber definitiv irgendwann vor 1615. Das heutige Mühlrad hat die Mühle 1981 als Update bekommen. Weil es so jung ist, mahlt die Mühle an manchen Mahltagen noch.
Der Leine-Heide-Radweg, ein alter Bekannter aus dem Süden, führt auch durch Holm.

Auf dem nächsten Streckenabschnitt ist die Seeve ein bisschen zu sehen. Sie schlängelt sich relativ ungezähmt über die Weide. Noch. An ihrem Ufer leben Ochsen im Matsch.

Im Stadtgebiet von Jesteburg durfte ich dann kurz ganz dicht an die Seeve heran, musste dafür jedoch einigen Spaziergängern mit Hunden ausweichen.

Das Zentrum von Jesteburg ist der Niedersachsenplatz. Er besteht aus Bäumen, Balken, Ziegeln und Reetdächern, die zusammen ein historisches Ensemble aus Bauernhäusern bilden. In einigen der Bauernhäuser befinden sich geöffnete Bäcker, denn Jesteburg ist der mit Abstand lebendigste und ansehnlichste Ort an der Seeve.


Die Seeve ist nun nicht mehr so kurvig. Sie fließt unter einem Brückenbogen durch, der eine größere Bahnstrecke trägt.

Den Nebenfluss Schmale Aue überquerte ich auf einer nicht ganz so beeindruckenden Brücke.

Dann bin ich auch schon am dritten Radwegring angekommen. Diesmal wollte ich nicht der kurzen und geraden, sondern der längeren Hälfte des Radwegrings am linken Ufer folgen. Sonst hätte ich einige interessante Dinge verpasst.

Die Wälder lösen sich auf und die Lüneburger Heide ist zu Ende, stattdessen irrte ich durch ein Netz aus Ackerwegen. Dass ich mich der Elbe näherte, konnte ich daran erkennen, dass ein Schaf meinen Weg blockierte, wie damals auf meiner allerersten Radreise am Elberadweg. Ich denke, es wollte mich nur auf folgendes hinweisen: "Du fährst in eine Sackgassäääh!"

Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen fand ich den richtigen Feldweg zu den Reihenhäusern von Hittfeld.

Hittfeld ist einer jeder Orte, wo sich die offizielle Radroute dermaßen kreuz und quer durch das Straßennetz schlängelt, dass ich die Orientierung irgendwann aufgebe, einfach den Schildern folge und hoffe, dass keins verdreht ist oder fehlt. Auf diese Weise bin ich am Pastor-Bode-Teich am Stadtrand rausgekommen, habe ihn umfahren und dann war Hittfeld irgendwann zu Ende. Wurde auch Zeit - langsam begann es zu dämmern und ich wollte noch etwas vom Rest der Strecke sehen.

Im Norden Niedersachsens sind viele Bahnhöfe nach folgendem Prinzip aufgebaut: Viele Treppen, kein Aufzug, zwei Gleise und dazwischen ein Bahnsteig, der gefühlt 40 Zentimeter breit ist. Solange die Leute vom Fahrtwind der Züge nicht weiter als zehn Meter mitgerissen werden, gilt ein Bahnsteig laut dem niedersächsischen Bauordnungsrecht als breit genug. Möglicherweise wird da mit neuer Technologie experimentiert, wie man Menschen mittels Windstößen befördern kann.
Trotzdem gibt es ein paar Gemeinden südlich von Hamburg, die aus ihren suboptimal aufgebauten versifften Bahnhöfen etwas Tolles gemacht haben: Bunte Bahnhöfe. Das bedeutet, das komplette Gebäude ist von innen vollgehängt mit Bildern, damit von den schmierigen beigefarbenen Fliesen möglichst wenig zu sehen ist.


Der Bahnhof in Hittfeld wurde von Menschen verschiedenen Alters, insbesondere Jugendlichen, Senioren und Behinderten, zum Thema Seevetal gestaltet. Das ist ein weites Feld, denn das Seevetal ist sowohl eine Landschaft als auch eine Gemeinde, zu der auch Hittfeld gehört. Von Kinderzeichnungen über politische Protestbildern gegen Umweltzerstörung, Grafitti, Landkarten und Kohlezeichnungen (glaube ich) bis hin zu richtig echten Landschaftsgemälden ist alles dabei.
Ganz ehrlich: Für mich als Laien hatte dieser Bahnhof denselben Mehrwert wie ein Museumsbesuch. Ich fand ihn auch besser als den Bunten Bahnhof in Maschen - selbst wenn pubertierende Kritiker auf einigen der Werke mit Edding nicht jugendfreie Kunstkritik hinterlassen haben.

Und nun macht die Seeve einen fatalen Fehler. Sie nähert sich der Metropole Hamburg - und gerät mitten ins Kreuzfeuer ihrer großen Verkehrsprojekte. Der Fluss wird begradigt, kanalisiert, in Tunnel gehüllt und versteckt.
Mehrere Autobahnen treffen hier aufeinander und bilden über der Seeve ein Muster aus Autobahnkreuzen. Ich fahre unter insgesamt drei Autobahnen durch.

In Maschen ragt dann ein großer Wall auf. Zunächst ist nicht genau zu erkennen, was sich da oben verbirgt, nur ein rätselhaftes Leuchten und Quietschen dringt durch die Bäume. Sobald die Seeve auf den Wall trifft, verschwindet sie in einem 600 Meter langem Tunnel. Neugierig folgte ich ihr ein Stück...

...und auf einmal war ich im Dunkeln verschwunden. Völlig überrascht stellte ich fest, dass man der Seeve auf ihrer unterirdischen Strecke folgen kann, die Karte verrät nämlich nichts davon. Dadurch habe ich mir einen ordentlichen Umweg gespart und die Strecke doch noch bei Tageslicht absolviert. Der rechteckige Betontunnel hat allerdings eine niedrige Decke, ist völlig unbeleuchtet und je nach Nervenstärke ein bisschen oder sehr unheimlich. Wer mit Klaustrophobie hineinfährt, könnte die unangenehmsten 600 Meter seines Lebens erleben. Wer ohne Helm hineinfährt, könnte mit einer Beule am Kopf wieder herauskommen. Und wer ohne funktionierendes Licht dort reinfährt, könnte einen Teil der 600 Meter unfreiwillig treibend in der Seeve zurücklegen.

Mehrere Treppenaufgänge führen an der Seite des Tunnels nach oben. Alle waren verrammelt - bis auf einen. Die Treppenstufen enden in einer gottlosen Gleisgegend (einer Gleiswüste, wie Modellbahner sagen würden). Einige Güterzüge zuckeln in der Ferne dahin, ansonsten: Gleise, Gleise und noch mehr leere Gleise bis zum Horizont.

Das ist der Rangierbahnhof Maschen, der zweitgrößte der Welt. Des nachts ist er an seinen vielen Lampen zu erkennen und sieht wesentlich stimmungsvoller aus als bei Tag. Am Rande hängt auch ein kleiner Passagierbahnhof dran.

Auch der Bahnhof Maschen ist ein Bunter Bahnhof, diesmal zum Thema Reisen, allerdings ist er nicht ganz so reichhaltig mit Bildern ausgestattet. Das Wort Reisen assoziieren die Jugendlichen, Senioren und Behinderten von Maschen offenbar vorwiegend mit exotischen afrikanischen Tieren wie Löwen. Der regionale Bezug ist dabei deutlich geringer als beim Thema Seevetal - sollte man zumindest meinen. In Wahrheit haben Löwen aber durchaus ein bisschen was mit der Seeve zu tun.

Als nämlich in den 1970ern der Rangierbahnhof erbaut wurde, musste eine Menge Torf, Sand und Gestein weg. Das wurde mit solchen Maschinen einfach auf die Wiese nebenan geschmissen.

Jahre vergingen, und auf dem trockenen, nährstoffarmen Boden am Ufer des Steller Sees machten es sich Magerrasen, Dornenbüsche und Eisvögel bequem, allerdings (noch) keine Löwen. Eine Marschlandschaft direkt vor Hamburg hatte sich in etwas verwandelt, das der Serengeti ähnelte. Fans des gepflegten Wortspiels müssen dieses Gebiet allein schon wegen seines Namens lieben: Die Seevengeti.


Gleich nebenan liegt noch das Naturschutzgebiet Untere Seeveniederung, das bekannt ist für die Schachbrettblume, die an ihrer Blüte einen natürlichen rechten Winkel aufweist. Deshalb wurde sie vermutlich fast ausgerottet, weil die Menschen das Monopol auf rechte Winkel haben wollten.

Zwischen diesen beiden Landschaften bin ich der Seeve auf ihrem niedrigen Deich gefolgt. Am Horizont ist bereits ein deutlich höherer Deich zu erkennen.


Es dauerte noch eine Weile, bis die Seeve endlich auf den großen Deich trifft und darin verschwindet. Auf den letzten Metern wird der Fluss noch mit einem Schöpfwerk zugepfropft. Bei Hochwasser schöpft es das Wasser über den Deich...

...und ab in die Elbe. Weiden und Schilf säumen den schönen Uferweg, sodass diese Mündung besser aussieht als die der Ilmenau, die nur wenige Kilometer weiter östlich zu finden ist.
Die Seeve ist auf nur 40 Kilometern vom Herzen der Lüneburger Heide zum zweitgrößten Rangierbahnhof der Welt bei Hamburg gereist. (Meine Fahrstrecke war etwa 55 Kilometer lang.) In der Nähe von Over heißt es dann in den Worten von Wolfgang Schäuble: "Isch over!"

Luhe: Von Winsen nach Schneverdingen

Lüneburger Elbnebenfluss #2: Die Luhe


Der zweite Heidefluss ist landschaftlich der interessanteste, allerdings auch am schlechtesten mit der Bahn erreichbar, nur kurz vor der Mündung gibts einen Bahnhof. Auf dieser vergleichsweise dünn besiedelten Route quer durch die mittlere Lüneburger Heide gibts keine Möglichkeit, in die Bahn auszusteigen. Wer mit dem Luheradweg beginnt, der muss da durch.

Die Luhe endet fast an derselben Stelle wie der erste Fluss: Kurz vor der Elbe fließt sie zwischen dicken Hecken in die längere Ilmenau rein, in der Nähe vom des Dorfes Stöckte.

Es folgt ein wunderbarer Deichradweg. Hinter dem Deich liegen ein paar schilfgedeckte Dorfhäuser, auf der anderen Seite erstrecken die Auen der Luhe. Die Mündung und diese paar Kilometer habe ich schon auf der Ilmenau-Tour gesehen, als ich am Bahnhof von Winsen gestartet bin.

Deswegen bin ich diesmal gleich von Winsen nach Süden geradelt.
Zwischen den Winsener Backsteinhäusern zwängt sich der Luhekanal hindurch. Ein Kanal durch die Innenstadt, über den sich die Stadtbewohner vorübergehend ein bisschen Wasserkraft schnorren - das kenne ich schon von vielen niedersächsischen Städten.


Das Zentrum und Highlight von Winsen ist der Schlosspark.


Dort beginnen fantastische Flusswege durch ausgesprochen ansprechende Auenlandschaften.

Aber solche tollen Wege gibts an kleineren Flüssen meistens nur innerhalb der Ortschaften. Sobald ich das Gebiet von Winsen verlassen hatte, bin ich zwischen Äckern, Autobahnen und Dörfern durchgegurkt. In Luhdorf lösen sich die Fahrradstreifen langsam auf.

Über der Luhe hängen Slalomstangen für Kanufahrer. Sie scheint ein besonders beliebter Paddelfluss zu sein, denn die Karte ist übersäht mit eingetragenen Kanu-Einstiegsstellen.

Auf diesem Abschnitt nennt sich die Luhe noch Luhekanal, und genau so sieht sie auch aus. Das meine ich nicht negativ, wie so viele Kanäle bietet der Luhekanal Radfahrern eine schöne, gerade Allee.
Der Übergang vom Deichland in die Lüneburger Heide erfolgt nicht so plötzlich wie an der Ilmenau, sondern sanfter durch die Park- und Kanallandschaft rund um Winsen, auf der sich die Bäume immer mehr zum Wald verdichten. Naja, vielleicht lag es auch daran, dass ich diesmal damit gerechnet habe.

Hinter der ersten Waldkette liegt Salzhausen, eine Gemeinde mit den üblichen historischen Heide-Bauernhäusern und drei merkwürdigen Türmen. Merkwürdiger Turm Nr. 1 ist ein Feuerwehrschlauchturm aus dem Jahr 1870. Ich habe ihn zuerst für einen Solebohrturm gehalten, das würde ja auch zum Ortsnamen passen.

Merkwürdige Turm Nr. 2 ist der Johanniskirchturm, der mit Übergewicht und einer goldenen Uhr im dänischen Stil ins Auge sticht.

Merkwürdiger Turm Nr. 3 ist der Paaschbergturm. Der jüngste der drei merkwürdigen Türme besteht aus Holz und steht, wie der Name verrät, auf dem Paaschberg. Dieser hohe Hügel ist übersät mit Waldwegen, in alle vier Himmelsrichtungen. Sie sehen sich derart ähnlich, dass ich vier Anläufe brauchte, um den Weg zurück zu meinem Fahrrad zu finden.

Durch seine Lage überragt er die anderen beiden Türme bei Weitem. Nachdem ich sämtliche Treppenstufen des Hügels und des Turms bewältigt hatte, konnte ich mich umsehen - und es sah ganz anders aus, als ich erwartet hatte. Salzhausen befindet sich nicht in einem langgestreckten Luhetal, es sah eher nach einem runden Ring aus Hügeln und Wald aus, der die Gemeinde umschließt. Wo genau die dünne Luhe da rein- und rausfließt, konnte ich nicht sagen. Es herrschten auch keine optimalen Sichtverhältnisse.

Ab jetzt besteht der Luheradweg vorwiegend aus Zickzack-Waldwegen. Weil die meistens gar nicht an der Luhe entlangführen, habe ich mir einen Großteil davon auf der Straße abgekürzt. Die Hauptstraßen haben in der Lüneburger Heide meistens Radwege. (Oder hat sich das mittlerweile generell in Deutschland verbessert?) Natürlich habe ich die Straße verlassen, wenn es etwas Interessantes zu entdecken gab.

Die Oldendorfer Totenstatt fällt ganz sicher in die Kategorie Etwas Interessantes - allein schon deshalb, weil hier Heidekraut wächst. Heideflächen direkt an der Luhe gibts ausschließlich in Kombination mit uralten Friedhöfen. Vor mehr als 4000 Jahren hat man angefangen, hier tote Menschen zu vergraben, und erst so 2500 Jahre später hat man damit aufgehört. Dieser Friedhof war länger in Betrieb, als das Christentum existiert (und sehr viel länger, als mein Campingkocher in Betrieb war, der mir hier mitteilte, sein Gas sei alle und ich müsse bestenfalls lauwarme Nudeln futtern oder verhungert auf der Totenstatt begraben werden).

Anfangs verwendeten die Oldendorfer Steinzeitmenschen langgestreckte Hünenbetten (für extragroße Tote oder solche, die für die Nachwelt extragroß erscheinen wollten) und ovale Grabhügel, in der Jungsteinzeit dann runde Steingräber. Ihr Eingang ist mit großen und kleineren Steinchen zugemauert. Die Leute stellten ihren Omas und Uropas dort gern was zu essen hin und fragten sie um Rat. Gleichzeitig machten ihnen die Toten auch etwas Angst, und sie wollten gern eine Barriere haben, damit die Seelen nicht nach drüben ins Dorf wandern und die Großtante wie schon zu Lebzeiten herummeckert, was man alles falsch macht. Und wie schützt man sich am besten vor griesgrämigen Geistern, bevor die Ghostbusters erfunden wurden? Richtig, mit Fließgewässern.

Zum Glück liegen zwei davon gleich um die Ecke, denn hier fließt die Lopau in die Luhe. Die Luhe ist also nicht nur ein Fluss, sondern auch ein Geisterschutzwall. Sie beschützt das Dorf Oldendorf auf der anderen Seite.

Die Lopau hingegen beschützt einen Hügel, auf dem zwei schicke spitze Kirchen aufragen - schon wieder mit so einer dänischen Uhr. Das ist Amelinghausen. Es liegt oberhalb der Lopau und dem Lopausee, von der Luhe ist also ein steiler Umweg nötig.

Die Luhe bildet unterdessen ein paar spritzige Stromschnellen - ausgerechnet hier, wo vor tausend Jahren die Händler auf dem Weg von Hannover nach Lüneburg hurtig durch Wasser furten mussten.

Was ist sonst noch typisch Luhe außer Heide-Grabstätten und Kanu-Einstiegsstellen? Wassermühlen, die gibts auch noch. Sodersdorf hat sogar zwei dieser typischen Sachen: eine Grabstätte (die sich hier ganz seriös Nekropole nennt) und eine Mühle. Die gehört seit 1650 derselben Familie und steht zusammen mit einem schiefen Backhaus auf einer Insel, die von einem künstlichen Luhearm umschlossen wird. Bis 1960 drehte sich das Mühlenrad, seitdem rauscht das Wasser einfach nur so zwischen den Brettern durch.
 

Nun wartet eine weitere Besonderheit abseits der Hauptroute. Da ich schon den Ausflug nach Amelinghausen gemacht hatte, fragte ich mich: Soll ich jetzt wirklich noch einen 5-Kilometer-Umweg machen? Und Gott sei Dank entschied ich mich dafür. Auf diesem Umweg sah ich das Erstaunlichste, das diese Tour zu bieten hat.
Hier sprudelt der Schwindebach aus dem Boden, ein Zufluss der Luhe. Die Schwindebachquelle schillert in exotischen Farbtönen, die sich vom Wald drumherum abheben, als käme sie von einem anderen Planeten. Wächst hier eine orangefarbene Alge? Nee, das orange Zeug fühlt sich nach nichts an, es hat keinerlei Festigkeit. Die Farbe entsteht, wenn kaltes Wasser mit Eisen drin aus dem Boden sprudelt, auf warmes Wasser trifft, zusätzlich Eisenbakterien am Eisen rumknabbern und es so oxidiert. Das heraussprudelnde Wasser ist indirekt daran zu erkennen, dass es türkisfarbenen Sand zu nach oben wirbelt - nicht "explosionsartig", wie es die Hinweistafel behauptet, sondern in einer sich langsam und endlos ausdehnenden Wolke - "ein fast schon hypnotischer Anblick, finden sie nicht?" Ja, in dem Punkt muss ich der Hinweistafel vorbehaltlos zustimmen. Etwas ähnliches habe ich allenfalls bei der Donauquelle gesehen, aber im Vergleich hierzu kann die Donau nur blubbern wie ein defekter Whirlpool.
Solche Wolken treten an vielen Stellen unter den Baumwurzeln hervor, sodass eine ganze Menge Wasser zusammenkommt, bis die Mulde überläuft und sich in den Bach nebenan ergießt - eine Tümpelquelle nennt sich das, eine seltene Quellenart.
Der Wassermenge nach ist die Schwindebachquelle nach der Rhumequelle am Harz die zweitgrößte Quelle Niedersachsens. Die Rhumequelle hat mich aber längst nicht so beeindruckt, und eigentlich auch keine andere der zahlreichen Quellen, die ich schon gesehen habe. Wenn man wirklich nur die Quelle an sich betrachtet (also nicht die landschaftliche Kulisse drumherum), ist das die schönste und außergewöhnlichste Quelle, die ich kenne.

Um den Umweg ein bisschen auszugleichen, bin ich dann der geraden Hauptstraße gefolgt. Sie führt durch ein Dorf, das aus den üblichen Heide-Bauernhäusern und holzgeschnitzten Figuren besteht. Es heißt Hützel. Bisher kannte ich Hützel nur aus einem Dieter-Hallervorden-Sketch:
"Woher kommen Sie?"
"Hützel."
"Wo ist denn das?"
"In der der Nähe von Hatzel."
"Aha."
"Landkreis Hotzel."
 "..."
"Lüneburger Heide."
"Ach soo..."
Ich hätte nicht gedacht, dass Hützel wirklich existiert.

Die letzte (offiziell erste) Stadt am Luheradweg ist Bispingen. Auch dieses Städtchen hat ein nettes Zentrum mit historischen Bauernhäusern, zwei Kirchen, Parkanlagen und allem Drum und Dran, doch dafür ist die Stadt nicht bekannt.
Mittelpunkt Bispingens ist die kleine Statue eines Heideschäfers, die an die Vergangenheit erinnert. Als Schäfer lässt sich heute nicht mehr so viel verdienen, weshalb Bispingen auf andere Geldquellen zurückgreift.

Schon am Ortseingang ist zu sehen: Bispingens ist eigentlich ein Heide-Erlebnisresort, dessen wahrer Reichtum in den Außenbezirken entsteht. Ich bin zuerst an einer der vielen Reitkoppeln vorbeigefahren, dann an einer wilden BMX-Fahrrad-Strecke und einem Schwimmbad. Nicht gesehen habe ich das Abenteuerlabyrinth, das Kopfüber-Haus, die Skihalle und die CenterParcs-Ferienanlage, die an sich schon zig verschiedene Erlebnissachen beinhaltet. All diese Dinge sind um Bispingen verteilt.

Südlich von Bispingen bin ich wieder in einen Wald eingetaucht. Auf der einen Seite rauschen Güterzüge und eine Autobahn, auf der anderen konnte die Schleifen der Luhe anhand der Bäume erkennen - bis es auf einmal nicht mehr konnte. Ich fuhr unter einer größeren Straße hindurch und auf der anderen Seite war kein Fluss mehr zu sehen. Habe ich etwa die Quelle verpasst?

Dieser Abenteuerspielplatz ist auch noch Teil des Bispinger Erlebnisprogramms.

Da ist ja die Luhequelle! Oder auch nicht, denn der Teich neben dem entsprechenden Schild ist leer.

Das ist aber nur der erste von drei Teichen, die zusammen irgendwie die Quelle bilden. Da drüber liegt Teich Nr. 2, und der ist voll. Wie genau die Teiche verbunden sind, weiß ich nicht.

Teich Nr. 3 ist halbvoll.
Das Wasser verschwindet gleich wieder unter der Erde und taucht erst später auf - eben dort, wo ich die Luhe im Wald verloren hatte. Deshalb wurde erst vor 100 Jahren entdeckt, dass das hier die Sickerquelle der Luhe ist. Damals war die Quelle von Heide umgeben, wie eine schöne Grafik auf der Infotafel zeigt. Heute ist alles aufgeforstet.
Die Quelle ist also schon ein bisschen ungewöhnlich und der Fläche nach sehr großzügig (nur die Rheinquelle ist noch größer). Gegen die Schwindebachquelle kann sie freilich nicht anstinken.

Obwohl mich seit Amelinghausen ein Gleis begleitet, fährt hier kein normaler Personenzug. Nur Güterzüge rumpelten vorbei, und an manchen Tagen im Sommer bummelt eine Museumsbahn nach Lüneburg. Der nächste richtige Bahnhof liegt 19 Kilometer entfernt in Schneverdingen am Wümmeradweg. Offiziell gehört diese Strecke nicht zum Luheradweg, aber eigentlich schon. Der Luheradweg ist ja keine Rundtour, also müssen sogar diejenigen, die mit dem Auto anreisen, mit der Bahn zum Startpunkt zurück
Meine Reaktion darauf: Och nö. Als ich auf dem Weg fuhr, wurde daraus jedoch ein: Oh, wow! Denn die straßenbegleitenden Radwege führen durch einen dichten dunkelgrünen Nadelwald, der alle Wälder an der Luhe alt aussehen lässt. Er türmt sich zu Hügeln auf, die aus der Ferne fast wie Sprungschanzen aussehen. Vor allem aber merkte ich, dass ich mich dem Herzen der Lüneburger Heide näherte, denn das Heidekraut wächst am Wegesrand und sogar in der Mitte der Kreisverkehre, bis der Weg am Ende die große Heidefläche von Schneverdingen durchquert.